"Lange
gingen Historiker
davon
aus, dass Kinder in der harten Alltagswelt des Mittelalters
kaum oder nur wenig Zeit zum
Spielen
hatten. Diese düstere
Vorstellung hat die
Forschungsgeschichte
teilweise
bis heute geprägt. Bild-
und
Schriftquellen
sowie zahlreiche mittelalterliche
Spielzeugfunde,
die
in den letzten Jahren zutage
kamen, haben hier aber deutlich andere Erkenntnisse gebracht. Eins
ist inzwischen klar: Es gab
zahlreiche
Gelegenheiten zum
Spiel und
zur
Zerstreuung.
Mit Zunahme der Stadtgrabungen häufen sich in den letzten
Jahren auch
spätmittelalterliche Spielzeugfunde, oft stammen sie aus Latrinen,
verursacht durch die guten Erhaltungsbedingungen
in diesem feuchten Milieu. Sonst sind Funde aus organischen Materialien wie Steckenpferde oder Stelzen, Schweinsblasen, Springseile oder Papierdrachen nicht mehr nachweisbar, auch Spielkarten
sind rar. Spielzeug aus Ton,
Metall oder Knochen hingegen erhielt
sich gut. Allerdings ist unklar, ob
es sich bei Knöchelchen um Spielzeug
oder reinen Schlachtabfall gehandelt
hat. Auch erlauben die Funde nicht immer eine exakte Trennung
zwischen Kinder- und Erwachsenenspiel.
Kreisel-,
Knöchel-, Kegelspiele
Ein klassisches Kinderspielzeug war
der Kreisel. Er wurde entweder mit der
Hand oder durch eine Peitsche, die um
die Rillen des Kreisels gewickelt wurde, angetrieben.
An der Spitze konnte der Kreisel
einen Metallstift haben,
der die Reibung verminderte.
Wie Funde aus Konstanz
und Freiburg zeigen, gab es bei den
Kreiseln unterschiedliche Formen
und Größen.
Mit
Astragalen, Knöchelchen des Sprunggelenks
eines Schafes, spielte man
schon seit der Antike. Die vier länglichen und zwei kleineren Flächen, auf die der Astragal allerdings niemals fallen konnte, eignen sich ideal zum Würfeln, dabei besaß jede Seite einen ändern Wert. Rinderzehenknochen, sog. Phalangen, wurden hingegen zum Kegeln benutzt. Dabei stellte man mehrere, mit Kerben verzierte Exemplare auf und bewarf sie mit einem weiteren Knöchel. Bis in die frühe Neuzeit galt Kegeln als Glückspiel und nicht als bloßer Zeitvertreib. Daraus folgt, dass Würfel und Kegel also nicht den Kindern vorbehalten waren.
Puppen
und Puppentheater
Zu
den eher seltenen Funden gehören Puppen aus Holz, so genannte Docken, die vom Dockenmacher gefertigt
wurden. Etwa aus dem Jahr 1300
stammt das Exemplar, das in einer
Lübecker Latrine bei Stadtgrabungen
entdeckt wurde. Häufiger sind Puppen aus Ton überliefert.
Meist wurden sie von den »Bilderbäckern«,
die sonst Heiligenfigürchen
und Votivgegenstände
herstellten, produziert.
Im süddeutschen Raum waren im
14./15. Jh. die »Kruselerpuppen« sehr beliebt, so benannt
nach ihrer Kopfbedeckung, dem »Kruseler«,
einem Schleier mit seinem Ausputz durch
Rüschen und Krausen. Sicherlich
spielten nicht nur Mädchen mit Tonfigürchen. Das
Puppentheater zum Beispiel
erfreute Jung und Alt. Mit
den spätmittelalterlichen Reiter
und Tierfigürchen und den zahlreichen
weiblichen Figuren imitierten die
Kinder wohl beim Tischritterspiel das Turnier und den Minnedienst,
wie man es von Fresken und
Kodexminiaturen
kennt.
Murmeln,
Kugeln und Bälle
Besonders häufig wurden bei Grabungen
Tonmurmeln gefunden. Wesentlich
seltener sind gedrechselte und mit einer Rille versehene Holzkugeln. Einige Exemplare stammen aus der Latrine des Freiburger Augustinerklosters. Ob die Mönche damit kegelten oder Boccia
spielten, wissen wir nicht. Von
beiden Spielen gibt es Darstellungen aus dem höfischen
Bereich. Nur schwer
nachweisbar sind Bälle. Da
sie ursprünglich aus weichem Material, meist Leder, gefertigt und mit Tierhaar,
Moos oder Federn gefüllt waren, hat sich nur wenig erhalten. Je nach Größe, Material und Füllung eigneten
sie sich zum Schlag- oder Wurfballspiel.
Luftgefüllte Lederbälle,
sog. »pallone« kennt man erst seit dem 15. Jh. aus Italien.
Ballspiel und Tanz
Auch die erwachsene Stadtbevölkerung
spielte Ball z.B. im Ballhaus. Aus der Verbindung von Ballspiel mit
Reigentanz entstand der Ball (-Tanz).
Der Tanz der Städter, der im Ratssaal
oder den Zunfthäusern stattfand,
näherte sich mehr den höfischen Formen an und unterschied sich
deutlich vom springenden Tanz oder Reigen,
der gern von den Bauern getanzt wurde.
Ballspiele und Tänze waren vielleicht
deshalb in allen Kreisen so beliebt,
weil es hier keine Geschlechtertrennung
gab. Das Wandfresko aus Schloss
Runkelstein in Bozen zeigt auch den erotischen Charakter des Ballspiels.
Es wird zur Begegnung der Geschlechter,
bei dem sich die Herren der Gunstzuweisung der Damen fügen mussten.
Brettspiele, Schach und Trictrac
Aus
dem vorderen Orient gelangte die
Kenntnis des Schachspiels nach Europa.
Bild- und Schriftquellen belegen, dass Brettspiele wie Schach
und Trictrac, ähnlich dem
heutigen Backgammon, zum
beliebtesten Zeitvertreib
der höfischen Gesellschaft,
aber
auch von Klerus und Stadtbevölkerung
gehörten. Die Unterscheidung,
wer damit gespielt hat, findet sich
im Material. Waren die Figuren aus
Elfenbein oder Halbedelstein geschnitten
oder aus Holz geschnitzt? Besaßen
die Spielsteine geschnitzte Sagengestalten,
wie auf Burg Bälden-Stein
bei Gammertingen, oder waren es einfache Exemplare aus Ahorn oder
Buchenholzscheibchen? Zwei Trictrac-Bretter
kamen in der Latrine des
Freiburger Augustinerklosters zum
Vorschein: bei dem einen waren die Spitzen, die das Spielfeld
unterteilen,
aus Edelholz eingelegt, beim
andern nur in ein ganz schlichtes
Tannenholzbrett eingeritzt. Brett-
und Kartenspiele wurden nicht nur
in den Wirtshäusern und Spielplätzen
der Stadt, sondern fast überall
gespielt. Immer wieder versuchte man die Spielleidenschaft einzudämmen. Die Standpauke, die der Starprediger Capistranus 1454 den Ulmern hielt, hatte zur
Folge, dass die Ulmer ihre Spielbretter und Würfel auf
dem Ulmer Münsterplatz aufhäuften
und verbrannten.
Turniere um Ruhm, Ehre und einen Kuss
Die ersten großen organisierten sportlichen Ereignisse in der Stadt waren vom Adel veranstaltete Turniere.
Diese ursprünglich auf den Burgen stattfindenden Spiele verlagerten sich im Hochmittelalter in die Städte.
Das Erste dieser Art ist für 1184 aus
Worms überliefert. Solche prunkvollen Veranstaltungen fanden als öffentliche Ereignisse anlässlich von Hoftagen, Schwertleiten oder Hochzeiten statt. Daneben gab es
nach wie vor Turniere als
Bestandteil des Minnedienstes, bei denen nur um der verehrten
Damen Willen gekämpft wurde. Sie waren es dann
auch,
die den Preis an den ruhmreichen
Sieger überreichten. Während in der Frühzeit des Turniers
um Ruhm und Ehre gekämpft wurde und der Preis rein ideeller Natur
war
- z. B. ein Sperber, ein Kranz, ein Kuss
-, kämpften im Spätmittelalter die
»Glücksritter«, verarmte Adelige, um
materielle Gewinne. Beim ritterlichen Turnier werden
zwei
Formen unterschieden: zum einen
der Massenkampf, bei dem eine ganze
Anzahl von Rittern mit stumpfen Waffen gegeneinander antrat,
und zum anderen der Zweikampf
mit
scharfen Waffen.
Kostenfaktor
für die Stadtbevölkerung
Den ansässigen Stadtbewohnern blieb die Teilnahme an den Turnieren verwehrt, diese war ausschließlich an
die adelige Herkunft geknüpft. Die Städte
und ihre bürgerliche Gesellschaft bildeten
den Rahmen der Veranstaltung und hatten für
Verpflegung und Schutz der
adeligen Teilnehmer zu
sorgen. So mussten etwa im Jahr 1442
anlässlich eines Turniers zur Fastnacht
in Augsburg 1360 gewappnete Ordnungshüter für 54 Ritter
und 300 Turnierteilnehmer gestellt werden.
Von
Scharfschützen und
»Pritschenmeistern«
Als Gegenpart zum adeligen Turnier entwickelte
sich in den Städten das Schützenfest, das keine so engen
Standesgrenzen
kannte und bei dem - neben dem Schießen - auch »offene
Spiele« ausgetragen wurden. Diese etwa im 14. Jh.
entstandenen Feste,
die meist vor der Stadtmauer stattfanden, erlebten im 15. und
16. Jh. ihren Höhepunkt.
Beliebte Termine
waren vor allem die Fastnacht, der Namenstag des Stadtpatrons
und die Kirchweihe. Für die Durchführung des Schießens war
ein
Ehrenausschuss verantwortlich. Dieser handhabte die Schießordnung,
prüfte Waffen und Bolzen,
setzte
die Einlagen an Geldbeträgen fest und schlichtete Einsprüche. Eine
besondere Disziplin war das Königsschießen,
mit dem Ziel, einen Vogel auf der
Stange zu treffen. Den besten Schuss hatte derjenige, der
»den Vogel abschoss«. Die Scheibenmitte war mit einem »Nagel« versehen. Sieger war, wer also »den Nagel auf den Kopf« oder »ins Schwarze traf«. Beim Armbrustschießen betrug die Entfernung 120 bis 240 Schritt, mit der Büchse doppelt so viel. Zur
Aufrechterhaltung von Zucht und
Ordnung
gab es den »Pritschenmeister«, der mit seiner »Pritsche«
aus Holz Verstöße der Schützen
oder vorwitziges Vordrängen
der Zuschauer ahndete.
Laufwettbewerbe
und
schweinische Gewinne
Neben
dem Schießwettbewerb, an
dem
nur die städtische Oberschicht teilnehmen
durfte, wurden »offene Spiele«
für jedermann ausgetragen. Dazu
gehörten zum Beispiel Laufen, Springen
und Steinstoßen. Auf einigen
Schützenfesten gab es Wettläufe für
Knechte und Mägde und von
Stadt
zu Stadt unterschiedlich auch für Bürgerinnen und Bürger.
Vom Nürnberger
Fest von 1442 heißt es, dass
Frauen und Töchter der Bürger und Bauern teilnahmen, »hübsche
Frawen und gemain
Weiber«. Dagegen wird den Teilnehmerinnen in
Augsburg
nachgesagt, dass »kain ehrbare
Frau« dabei war. Ferner veranstaltete
der Rat der Stadt Nördlingen 1442 zugleich
einen Wettlauf für Knechte und
Mägde, allerdings nur für die Leute
»die man heyst die gemeynen.« Zu gewinnen gab es neben Geld
auch
unterschiedlich wertvolle Sachpreise.
Auf dem Züricher Schützenfest
von 1472 beispielsweise erhielt der
Beste im Laufen, Springen und Stoßen einen Gulden zum Sieg und in
Stuttgart konnte man 1501 auch
erlesene
Tuche und Stoffe wie Barchent
oder Lyndisch Hosen (Londoner
Hosen) erhalten. »Schwein gehabt« hatte derjenige, der den letzten
Gewinn beim Schießen, den
»Pritschenschuss«,
hatte. Er bekam eine
Sau mit Ferkeln überreicht."
[ANDREA BRÄUNING]
Verlag GmbH
Quellen
(1) Archäologie in Deutschland, Heft 1 - 2004, S. 28ff,
Theiss Verlag
(2)
Stadtluft, Hirsebrei und Bettelmönch. Die Stadt um 1300 (Katalog
zur Ausstellung), Theiss Verlag Stuttgart 1992.
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Bild 1
Pieter Brueghel der Ältere: Kinderspiele
(Ausschnitt) von 1560 => mehr
dazu [wissen.sdr.de]
Bild 2
Kreisel, Würfel und Spielkugeln aus der Grabung
in Konstanz am Fischmarkt und der Freiburger
Augustinerlatrine (nach 1278)
[(1), S. 30]
Bild 3:
Inv.-Nr. 2297
Beinerner Würfel vom Turmberg bei Kasendorf;
Kantenlänge knapp 1 cm
4
5
Um das 14/15. Jh. waren Kruselerpuppen,
so genannt nach ihrer Kopfbedeckung,
ein beliebtes Spielzeug im süddeutschen Raum.
[Archäologie in Deutschland, Heft 1, 2004, S.
30/31
Germanisches Nationalmuseum Nürnberg]
Bild 6
Dieses Ensemble von Tier- und Reiterfigürchen
wurde am Konstanzer Fischmarkt geborgen. [(1),
S. 34]
Bild 7
Ein Import aus dem Orient wurde zum beliebtesten
Zeitvertreib des Adels: Herr Markgraf Otto von Brandenburg
(1266-1309) mit seiner Dame beim Schachspiel.
[(1), S. 32]
Bild 8
Schachfiguren und Brettspielsteine aus Bein
von der Burg Baldenstein bei Gammertingen.
[(1), S. 32]
Bild 9
Trictacbrett aus Hartholz und Spielsteine aus
der Augustinerlatrine in Freiburg (nach 1278).
[(1), S. 32]
10
Großes
Schützenfest in St. Gallen 1527:
Im Vordergrund findet das Büchsenschießen
statt. In der Bildmitte rechts sieht
man den »Pritschenmeister« oder »Platznarr«, wie er einen
Teilnehmer, der
gegen die Schützenordnung verstoßen
hat, verdrischt. Links im Bildhintergrund wird ein Wettlauf
ausgetragen.
Daneben findet ein Steinstoßwettbewerb
statt. Ganz hinten im Bild
spielt man Karten, musiziert, tanzt und
trinkt. Die Männer in den halblangen
Mänteln gehören zum Ehrenausschuss,
der für die Durchführung des
Festbetriebs verantwortlich war.
[(1), S. 32]
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