"Vor 14 Jahren lieferte der
Fund der Gletschermumie »Ötzi« vom Tisenjoch/ltalien den Beweis,
dass der Mensch die Alpen bereits vor mehr als 5000 Jahren
überquert hat. Seit dem Hitzesommer 2003 gibt ein schmelzendes
Eisfeld am Schnidejoch im Berner Oberland vor- und
frühgeschichtliche Kleidungsstücke und Ausrüstungsgegenstände
frei. Die Funde bezeugen einen bisher unbekannten
beziehungsweise vergessenen Passübergang in den westlichen
Zentralalpen und leisten einen wesentlichen Beitrag zur
Erforschung der Klimageschichte der
vergangenen 6000 Jahre."
Entdeckungen der Jahre 2003 bis
2005
"Am 17. September 2003 entdeckte
Ursula Leuenberger aus Thun/CH etwa 200 m unterhalb des
Schnidejochs (2756 m) ein nicht alltägliches Objekt aus
Birkenrinde und entschloss sich, dieses mitzunehmen. Als sie es
rund einen Monat später zunächst dem Bernischen Historischen
Museum und schließlich dem Archäologischen Dienst des Kantons
Bern (ADB) zur Begutachtung brachte, war guter Rat teuer: Konnte
das gut erhaltene Fundstück mehr als einige Jahrzehnte oder
wenige Jahrhunderte alt sein? Handelte es sich um Teile eines
Köchers? Erst das Ergebnis der 14C-Datierung und der
Fund weiterer Fragmente brachten Klärung: Der Deckel eines
spätneolithischen Köchers wurde vor nahezu 5000 Jahren verloren.
Diese Erkenntnis löste
systematische Begehungen der Fundstelle in den Sommern 2004 und
2005 aus. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Archäologischen
Dienstes konnten dabei im schmelzenden Eisfeld und seiner
Umgebung mehr als 400 Objekte aus diversen Epochen aufsammeln.
Bemerkenswert ist, dass neben Holzfunden auch weitaus
vergänglichere organische Materialien im Eis überdauert hatten.
Leder- und Textilienreste wurden entweder direkt am Eisrand oder
nur wenig davon entfernt entdeckt. Die robusteren Knochen und
Hölzer streuten hingegen etwas weiter. In einem größeren Umfeld
konnten kleine Eisennägel römischer Schuhe aufgesammelt werden.
Die Funde selbst, zwanzig 14C-Daten
und die Untersuchungen durch Spezialisten geben heute, gut zwei
Jahre nach der Entdeckung der Fundstelle, einen ersten Einblick
in die Geschichte des vor- und frühgeschichtlichen Passübergangs
zwischen dem Berner Oberland und dem Wallis.
Im Neolithikum auf der Jagd
Etwa die Hälfte aller
14C-datierten Objekte stammt aus dem Zeitraum zwischen 2900 und
2600 v. Chr., also dem jüngeren Spät- bzw. frühen Endneolithikum
(Lüscherz/Schnurkeramik). Einige Artefakte wie Bogen, Pfeile und
Köcher gehören zur Ausrüstung eines Jägers, die anderen zählen
zur Bekleidung.
Zu dem 2003 gefundenen Köcherdeckel
gab das Eis im September 2004 noch eine Rindenbahn frei. Im
Sommer 2005 kamen im »Kleinen Eisfeld« zwei weitere Teile des
Köchers zum Vorschein. Bei der Computertomografie des untersten
Köcherteils wurden darin zwei gestielte Silexpfeilspitzen
entdeckt. Nahebei fand sich auch die Bogensehne aus tierischen
Fasern. Aufgrund von zwei HC-Daten können die sechs Pfeile aus
Schneeballruten dem neolithischen Köcher zugewiesen werden. An
einem Exemplar finden sich noch Spuren des Birkenteers, mit dem
die Silexpfeilspitze bzw. die Befiederung fixiert war.
Zur kompletten Ausrüstung eines spät- oder endneolithischen
Jägers fehlte nur noch der Eibenbogen. Nachdem die Fundstelle im
November 2005 über die Medien einer breiten Öffentlichkeit
vorgestellt worden war, meldete sich Bernhard Wolters aus
Deutschland beim ADB. Er hatte das Schnidejoch im Herbst 2003
mit einer Wiesbadener Wandergruppe überquert - nur zwei Tage,
nachdem Ursula Leuenberger das erste Köcherfragment entdeckte.
Dabei fanden die Wanderer wenig unterhalb der Passhöhe einen
Bogen und ein Pfeilfragment, die sie mit nach Hause nahmen. Erst
aufgrund der Pressemitteilung erkannten sie die Bedeutung ihres
Fundes, und die Wissenschaftler durften den vorzüglich
erhaltenen, 160 cm langen Eibenbogen in Wiesbaden abholen.
In Lederhosen übers
Schnidejoch
Aufsehen erregend sind die
zahlreichen weiteren Lederfunde vom Schnidejoch: Sie erlauben
einen neuen Blick auf die Bekleidung der frühen
Bauerngesellschaften, denn Leder, Haar und Hörn haben sich auch
in den sonst an organischen Funden reichen Seeufersiedlungen
nicht erhalten.
Eine Reihe größerer und kleinerer Leder- und Riemenfragmente
stammt von Schuhen, die offenbar unterwegs kaputt oder verloren
gingen. Sie gehören vermutlich zu vier verschiedenen
neolithischen Exemplaren. Das am besten erhaltene Stück erlaubt
die Rekonstruktion eines einfachen Schuhs, der vermutlich aus
frischer Haut zugeschnitten und direkt am Fuß gefertigt wurde.
Ein ursprünglich zerknülltes, großes Lederstück entpuppte sich
als das knapp 90 cm x 60 cm messende Fragment eines Beinkleids.
Es weist neben einer Längsnaht auch eine Flickstelle auf, als Faden wurde
Lindenbast verwendet. In geschützten Falten des Hosenbeins
fanden die Restauratoren kleine Partikel, bei denen es sich
möglicherweise um menschliche Haut handelt. Zahlreiche Fragen
werfen zwei Fellreste auf. Die vorläufige Untersuchung der einen
Probe unter dem Rastermikroskop weist auf einen Equiden, Pferd
oder Esel, hin, doch die Artbestimmung Rind kann noch nicht ganz
ausgeschlossen werden.
Warmphase vor 5000
Jahren
Den Verlust von Bogen, Köcher und
Pfeilen möchten wir gerne mit einem Einzelereignis in Verbindung
bringen. Die 14C-Daten lassen aber nicht erkennen, ob die
neolithischen Funde von einem einzigen »Unfall« stammen oder ob
sie - was aufgrund der vier Schuhfragmente denkbar wäre - doch
eher für eine gängige Pass-querung zwischen 2900 und 2600 v.
Chr. sprechen.
Die verlorenen Objekte wurden
vermutlich bald im Eis eingeschlossen. Sie belegen die
zeitweilige Passierbarkeit des Schnidejochs und damit eine
spätneolithische bis frühbronzezeitliche Warmphase, in der das
Klima zumindest so warm wie heute war. Parallel dazu verlaufen
die niedrigen Beryllium10-Werte dieses Zeitabschnitts im
grönländischen Eisbohrkern GISP 2 und die Seespiegeltiefstände
an den schweizerischen Mittellandseen, die eine Besiedlung der
Strandplatten zwischen etwa 2900 und 2400 bzw. 2000 und 1500 v.
Chr. ermöglichten.
Handelsroute
der Frühen Bronzezeit
Mehrere Faktoren sprechen
dafür, dass das Schnidejoch spätestens im frühen 2. Jt. v.
Chr. Teil einer Handelsroute über den nördlichen Alpenkamm
war. Auffallend häufig sind verdrehte Ast- und
Zweigfragmente und noch ineinander verschlungene,
vollständige Ringe aus verschieden dicken Zweigen. Sie
gehören zu Bindungen, mit denen Lasten zusammengehalten
und/oder an den Saumtieren festgebunden wurden. Drei der
vier bereits 14C-datier-ten Exemplare sind aus
Birken- oder Fichtenzweigen. Dass auf dem beschwerlichen Weg
ab und zu Verpackungsmaterial verloren ging, scheint gut
möglich. Dazu zählen die Teile einer frühbronzezeitlichen
Holzschachtel: Zu den 2004 geborgenen Wandfragmenten des mit
Fichtenzweigen zusammengenähten Behälters aus Weide gab das
Eis im Sommer 2005 auch den Boden aus Arvenholz frei.
Eine 23 cm lange Scheibenkopfnadel aus der Zeit zwischen
2000 und 1750 v. Chr. ist mit feinen Ritzlinien verziert.
Ähnliche Gewandnadeln kennen wir aus Gräbern von Ayent, am
Südhang des Schnidejochs. Ein fast identisches Exemplar
stammt aus einem Grab in Conthey, das nur wenige Kilometer
rhonetalabwärts liegt. Der Fund verdeutlicht die
inneralpinen Kontakte und verbindet die frühbronzezeitlichen
Gräber des Rhonetals mit denjenigen der Thunersee-Region.
Aus dem restlichen 2. und dem 1. Jt. v.
Chr. fehlen Funde vom Schnidejoch. Auch andere Klimaarchive
rechnen in diesem Zeitraum mit einer Kaltphase.
100
römische Schuhnägel
Erst ab etwa 150 v. Chr. nahmen
die Temperaturen wieder deutlich zu, das römerzeitliche
Klimaoptimum dauerte bis etwa 400/500 n.Chr. an. Zumindest
vom 1. bis ins 3. Jh. n. Chr. diente das Schnidejoch erneut
als Verbindungsweg zwischen dem Wallis und dem Berner
Oberland. Dies bezeugen annähernd 100 römische Schuhnägel.
Sie wurden auf einem kurzen Streckenabschnitt aufgelesen und
sprechen für eine rege Begehung des Passes. Der schmale
Gürtel einer Tunika besteht aus Wolle, deren Qualität mit
jener heutiger Merinoschafe vergleichbar ist. Ärgerlicher
war der Verlust einer versilberten Scharnierfibel. Solche
Gewandschließen wurden in der zweiten Hälfte des 1. und in
den ersten Jahrzehnten des 2. Jh. getragen.
Bereits seit den achtziger Jahren des 20. Jh. ist die Mansio
(römische Herberge) am Westufer des Iffigsees bekannt (2065
m). Die hier 2004 gefundene römische Silbermünze des
Caracalla wurde im frühen 3. Jh. (201-206 v. Chr.) geprägt.
Sie belegt, wann der Passübergang über das Schnidejoch
offenbar noch begehbar war. Eine bereits 1941 publizierte
Münze stammt aus der Nähe der Wildhornhütte, die etwa auf
halbem Weg zwischen dem Iffigsee und dem Schnidejoch liegt.
Der Sesterz des Commodus (187/188 n.Chr.) wurde etwa 15
Jahre früher als der Denar aus der Mansio am Iffigsee
geprägt. Die Lage der Herberge war ideal. Von hier aus
konnte der Weg ins Rhonetal in einem Tagesmarsch bewältigt
werden.
Kurze
Verbindung nach Italien
Mit dem Passweg über das
Schnidejoch fassen wir einen der kürzesten Verbindungswege
von Oberitalien ins schweizerische Mittelland. Erst am
nordwestlichen Ende des Lago Maggiore musste die Ware vom
Lastschiff auf den Wagen oder das Lasttier umgeladen werden.
Von da führte der Saumpfad über den Simplonpass (2005 m). Da
ein Saumpfad kaum Spuren hinterlässt, bleibt die genaue
römische Wegführung vorläufig unbekannt.
Je nach Begehbarkeit der Wege
führte die Strecke vom Rhonetal über den Lötschenpass (2690
m) oder das Schnidejoch ins Berner Oberland. Es dürfte kein
Zufall sein, dass ganz am Ende der Alpenquerung, wo die
verschiedenen Wege wieder zusammenkamen, der Tempelbezirk
von Thun-Allmendingen lag. Dort wurde neben den Alpengöttern
auch die Dea Annona, dargestellt mit Steuerruder und
Schifferpaddel, verehrt. Ab hier erfolgte der Warentransport
auf den Lastkähnen der Schiffergilde der Nautae Aruranci
Aramici ins schweizerische Mittelland und rheinabwärts.
Gletscher
sperrt den Übergang
Ein weiteres Schuhfragment
datiert ins letzte Drittel des 1. Jt.n.Chr. Der Hinterfleck
einer Nachbesohlung kann typologisch dem 14/15. Jh.
zugeordnet werden. Die beiden Schuhfragmente belegen die
erneute Nutzung des Passes während des mittelalterlichen
Klimaoptimums. Um 1850 wurden die Daten für das Kartenblatt
472 des Topografischen Atlasses der Schweiz, der so
genannten Siegfriedkarte, in der Ausgabe von 1872
aufgenommen. Sie zeigen, dass der Gletscher Mitte des 19.
Jh., am Ende der »Kleinen Eiszeit« (1550-1850), noch weit
über das Schnidejoch hinaus auf die Südseite des
Passübergangs reichte. Seine Querung war zu diesem Zeitpunkt
genauso unmöglich wie in den Jahrhunderten davor. Die
jüngsten Spuren auf dem Schnidejoch hinterließen das Militär
und die Alpinisten des 20. Jh. Sie drangen nun aus anderen
Motiven in die Welt des Hochgebirges vor".
[Dr. Peter Suter,
Archäologischer Dienst des Kantons Bern (ADB);
Leseprobe
aus:
"Fenster Europa
SCHWEIZ" in Archäologie in Deutschland
(2 . 2006, März - April)]
Theiss
Verlag, GmbH.
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Abb. 1
"Im Sommer
2005 wurden zwei weitere Teile
des bereits 2003 entdeckten Köchers geborgen.
Abb. 2
Das Eisfeld
am Schnidejoch liegt in einer
kleinen Mulde wenig unterhalb der Passhöhe (oben).
Am 17. September 2004 ist das Eis bereits in zwei Felder getrennt.
Abb. 3
Eine 2004
auf der Eisoberfläche gefundene Rindenbahn passt an
die Spitze des bereits 2003 geborgenen Köcherdeckels. Die
Computertomografie zeigt zwei im untersten Köcherteil steckende
gestielte Pfeilspitzen aus Silex.
Abb. 4
Eibenbogen
(Taxus) und Pfeile aus Schneeballruten (Viburnum).
Der Bogen ist 160 cm lang.
Abb. 5
Das große
Lederstück konnte im Labor auseinandergefaltet werden
und entpuppte sich als knapp 90 cm x 60 cm großes Teil eines
Beinkleids.
Als Nähmaterial diente Lindenbast.
Abb. 6 + 7
Fragment
und daraus abgeleitete Rekonstruktion des einfachen
Schuhs aus der Jungsteinzeit. Er ist 23 cm lang
Abb. 8
Verlauf der
Saumroute über die westlichen Zentralalpen zwischen
dem Lago Maggiore und der ab Thun schiffbaren Aare.
Abb. 9
Frühbronzezeitliche Scheibenkopfnadel
von 23 cm Länge. "
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